Der erste Blick in dieses Schwarz-weiß-Album aus dem Hause Schreiber & Leser
verschreckt zunächst. Varenns Bilder sind gewöhnungsbedürftig: Ein grober Strich
zeichnet Gesichter mit unpassenden Proportionen, die Bilder hinterlassen einen
"unfertigen" Eindruck. Man möchte meinen, hier die Arbeit eines Anfängers vor
sich zu haben. Doch "so ist halt Varenne".
Wer sich auf dieses Album - oder ein anderes des Zeichners - einläßt, wird rasch von
der eigenartigen Stimmung der Geschichten beeindruckt: Schon nach wenigen Seiten gewinnen
die Bilder ein eigenes Leben. Varenne erzählt Geschichten, die Bilder sind eine einfache
Sprache, die er gekonnt benutzt, um - gemeinsam mit den Worten - den Leser schnell und
fesselnd in seine Welt zu ziehen.
In
"Carlotta" wird zuerst ein kleiner und bedeutender Ausschnitt aus dem Leben
eines gutaussehenden und ausgenutzten Daseins eben dieser Carlotta geschildert. Die
Mißhandlung des Mädchens beinhalten erzwungene Prostitution und Organentnahme. Ein nicht
näher beschriebener Mann setzt Alles in Gang. Er wartet schon seit zwei Tagen, aber auf
was? Carlotta kommt in sein Zimmer und bietet ihm ihre Dienste an. Dann eine Explosion.
Zum Schluß hat der Leser jede Menge Leichen gesehen und selbst das Überleben des Mannes
"der-wartete" ist nicht gewiß.
Varenne spielt mit den Erwartungen seiner Leser. Wie wird sich die Geschichte
entwickeln? Wird es in einer Action-Story enden oder in einer Sex-Geschichte? Immer wieder
werden scheinbar eindeutige Zeichen gegeben, nur um auf der nächsten Seite ad absurdum
geführt zu werden. Die Story funktioniert nur, wenn man die verschiedenen Genres und ihre
Stereotypen kennt.
Insgesamt bleibt die gezeigte Brutalität in Erinnerung. Ist die Grausamkeit Carlottas
verständlich, vertretbar oder einfach nur ausgelebte Lust am Morden?
Also alles in allem ein Comic für dem erfahrenen und/oder erwachsenen Leser.
Obwohl die Spannung und die Gefühls-Achterbahn nur beim ersten Lesen richtig
funktioniert, wird man dieses Comic immer wieder durchblättern, nur um zu sehen, wo und
wie man "verladen" und manipuliert wurde.
Wenige Comics schaffen es, den Leser auch nach der letzten Seite weiter zu bewegen -
Carlotta gehört dazu.
Harte Emotionen wie in "Stray Cats", nur intensiver und künstlicher.