Der Manga in Deutschland ist für pubertierende Mädchen. Stimmt meistens, ist aber nicht die ganze Wahrheit. „Die Sicht der Dinge“ ist wunderbar anders.
Yoichi floh vor Jahrzehnten vor einem herzlosen Vater vom Land in die Stadt. Als der Vater stirbt und Yoichi mehr aus Pflichterfüllung als freiwillig der Totenwache beiwohnt, lernt er durch die Erzählungen der Verwandten, dass er seine Erinnerungen überdenken muss. Jiro Taniguchi erzählt diese Geschichte mit fast unmenschlicher Leichtigkeit. Schuld ist kein Thema, das Verstehen steht im Mittelpunkt.
Dieses verstehen macht aus den Protagonisten noch lange keine guten Menschen, da ist immer noch eine gescheiterte Ehe und ein Vater, der seine Prioritäten anders setzt, als das sein Sohn sich das gewünscht hätte. Aber genau diese Normalität ist wunderbar neutral erzählt. Hier gibt es keine Opfer oder Täter, auch wenn das vor Tränen nicht schützt.
Dieser Comic ist nicht für das deutsche Standard-Manga-Publikum gemacht. Dazu ist „Die Sicht der Dinge“ zu langsam und zu fein erzählt. Das ist kein Abgriff auf pubertierende Mädchen, aber einige Lebenserfahrung hilft, die Tiefe der Erzählung nachzuvollziehen. Der hier angesprochene Leser ist also älter, und der kommt in der Regel mit der japanischen Leserichtung von Rechts nach Links nicht zurecht. Aus diesem Grund wurden die Seiten gespiegelt – und das ist ein Reizthema für den typischen Manga-Konsumenten, denn jede Jugendkultur hat ihre Dogmen: Nur Jeans mit Knöpfen sind gute Jeans, nur Streifenhosen aus London sind echter Punk und Mangas sind von Rechts nach Links gute Mangas – Dogmen sind blöd.
Spiegeln oder nicht? Gehen wir davon aus, dass der Zeichner sich der Wirkung der Leserichtung bewusst ist, und sie als erzählerisches Mittel einsetzt muss man Mangas spiegeln.
Erklärung: Der westliche Kulturraum "liest" Bilder von leicht über der Mitte beginnend, dann rechts und wandert dann nach links. Linien, die dieser Bewegung folgen, werden als angenehm empfunden. So startet das Flugzeug in einer Werbung fast immer von rechts unten nach links oben. Linien gegen diese Richtung werden zuerst als "Achtung!" empfunden. In der Tunnelsequenz bedeutet dies Folgendes:
Seite 137: Eigentlich idyllisch, der Zeichner deutet die kommende Krise durch die Bewegung der drei Wanderer nach rechts an. Im zweiten Panel wird der Leser durch die sich nach links drehenden Schienen in den Tunnel hinein. Der Seitenaufbau ist durch gerade Linien geprägt.
Seite 138: Das erste Panel hat ein Gewicht auf der rechten Seite, die linke Seite bleibt leer. Völlig unausgewogen was das Bild rechtslastig macht, obwohl der Blick des Mannes nach links gerichtet ist. Das Drama kommt schon alleine durch diese Komposition. Die letzte Zeile beginnt mit schrägen Panelkanten, die zusätzlich durch eine Sprechblase gebrochen wird. Die drei Personen rennen nach rechts. Die Dramatik wird unerträglich.
Seite 139: Die Auflösung. Die Menschen finden eine Nische und betreten diese von rechts nach links - in die Bildharmonie hinein. Die Frau erreicht diese Rettung nach der Flucht aus der rechten Richtung - gegen die harmonische Richtung - und wird diese in der Nische beenden. Danach die Entspannung: Die Panelkanten werden wieder gerade, die dominierende Bildrichtung ist wieder von rechts nach links, was die Entspannung unterstreicht.
Eine grandios komponierte Sequenz, die allerdings für europäische Leser nur in gespiegelter Form greift.
„Die Sicht der Dinge“ ist eine wunderbar erzählte Geschichte ohne das übliche Täöter/Opfer Klischee voller echter Menschen, unglaublich detaillierter Bilder – die leider mangatypisch etwas steril wirken – und in „normaler“ Leserichtung und somit für den interessierten Einsteiger geeignet.