Autobiografien sind IN! Entweder frech wie „Held“ von Flix oder voller Emotionen wie Craig Thompsons „Blankets“. Julie Doucets „New Yorker Tagebuch“ ist anders – kommt ja auch bei Reprodukt heraus. Drogenexesse, verdreckte Wohnungen und Enttäuschungen bestimmen die Geschichte. Es ist bewundernswert, wie die an Epilepsie leidende Zeichnerin an diesen Erlebnissen nicht zumindest seelisch erkrankt.
Auf 54 Seiten breitet der grobe und fast schmerzlich genaue Blick Julies ein Kaleidoskop an menschlichen Unzulänglichkeiten aus. Es beginnt in Montreal. Hier hatte sie ein funktionierendes Umfeld. Seine Heimat verlässt man nur, weil man dort nicht überleben kann oder wegen der Liebe/Triebe. Hier sind es die Hormone, die mit einem Jahr in der Metropole New York bestraft werden.
Der Frühling begrüßt die Heldin mit offenen Armen. Okay, die Straßen rund um die kleine Wohnung sind weder sauber noch sicher, aber sie lebt in liebender Umarmung und mit einem fast festen Drogenfahrplan. Bier als Grundnahrungsmittel angereichert mit Koks und Sex und zwischendrin eine Schwangerschaft. Die geht aber in die Hose oder genauer in den Abfluss. Schlimmer als der Verlust wiegt der neue härtere Ton in ihrer Beziehung mit dem Freund.
Der Sommer bringt nichts wirklich Neues, Julie hat einen Job und zeichnet Comics, wird bekannt und der Freund beginnt zu nerven. Post aus Montreal, epileptische Anfälle und Erinnerungen lassen die Zeit verfliegen und es beginnt der Herbst.
Die Beziehung wird immer problematischer und eine Reise nach Hause ist auch nicht ohne böse Überraschungen, die aber keinen so richtig überraschen. Das Jahr endet mit dem Winter. Alles ist kalt und leer – und dieser Teil der Geschichte nur drei Seiten lang
Das „New Yorker Tagebuch“ ist ein urbaner Roadmovie. Ungeschminkt und ungelenkt, schonungslos aber ohne Vergeltung. Es ist das Leben, das der Geschichte seine Struktur gibt. Fehler sind gut, wenn man aus ihnen lernt, aber wie erkennt man Fehler? Kann man sie vorhersehen und ihnen ausweichen oder sind sie einfach nur Stationen einer Lebens-U-Bahn, denen man nicht ausweichen kann?
Was ist dieses Comic nun? Ist es unterhaltend oder verstörend? Kommt sicher auf die Erfahrung des Lesers an, aber ist es nicht immer der Kopf des Empfängers, der aus Bildern eine Aussage formt. Die Erzählerin gibt keinen klar erkennbaren Roten Faden vor und will sie hier etwas vermitteln? Für eine unreflektierte Schilderung gibt es zu viel Struktur. Die Gleichsetzung des Jahrs mit der sich entwickelnden Beziehung zu ihrem Freund und parallel ihre eigene sich entwickelnde Comic Karriere. Das eine ein Kreis: aus dem nichts beginnend, sich vergrößernd nur um am Scheitelpunkt in sich zusammenzusacken und wieder im Nichts zu enden. Dagegen eine kontinuierliche Steigerung an Anerkennung. Das ergibt übereinander gelegt das Zeichen für den mathematischen Durchschnitt. Ist die hier erzählte Geschichte durchschnittlich? Okay, so exessiv wird nicht jeder Drogen konsumieren und nicht jeder ist Epileptiker, aber was sind Drogen oder eine Krankheit? Zu viel Flucht in Ersatzsensationen wie Diskos oder Macht sind Drogen und krank sind wir alle, denn wir sind Menschen. Also doch verunsichernd durchschnittlich, obwohl der erste Anschein ein völlig anderer ist.
Durschnittlich sein war schon immer IN – das ist die Bedeutung von Mode und Zeitgeist. Das spannend zu dokumentieren schon immer eine Ausnahmeerscheinung.